EMANUEL WERTHEIMER
                                               EMANUEL WERTHEIMER

Publikationen

Bücher:

Emanuel Wertheimer: Pensées et Maximes. Traduction de Marcellin, Bon Grivot de Grandcourt. Lettre-Préface de François Coppée de l'Academie Française. Paris: Paul Ollendorff 1895.

 

Rezension:

"Was La Rochefoucauld und La Bruyère mit Beziehung auf ihre Zeit gethan haben, versucht der Verfasser dieser Schrift für unsre modernen Verhältnisse, und sein Versuch ist wohlgelungen. [...] In der trefflichen Uebersetzung bietet die Schrift eine äusserst anregende und belehrende Lectüre, die durch ein sorgfältiges Register sehr erleichtert und übersichtlich gemacht wird." R. Mahrenholtz in: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur. 18 (1896), Hf. 4, S. 126: Wertheimer, Emanuel. Pensées et Maximes. Traduction de Marcellin, Bon Grivot de Grandcourt, Lettre-Préface de Fr. Coppée, Paris Paul Ollendorff. 1895, 139 p.

 

Emanuel Wertheimer: Aphorismen. Gedanken und Meinungen. Mit einem Vorwort von François Coppée. Stuttgart u.a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1896.

 

Emanuel Wertheimer: Paradojas y Verdades. Madrid 1898.

 

Emanuel Wertheimer: Buch der Weisheit. Aphorismen. Zweite Auflage und Neue Folge. Mit dem Bildnis des Verfassers, einem Abriß seines Lebens von Alfred Klaar und dem Vorwort von François Coppée aus der französischen Ausgabe. Hamburg, Berlin: Hoffmann & Campe Verlag 1920.

 

Rezension:

"Die Aphorismensammlung Wertheimers heute noch mit einer kritischen Wertung zu bedenken, hieße den Rezensenten lächerlich machen. Sie wurde bei ihrem ersten Erscheinen vielseitig anerkannt, sie hat, ins Spanische und Französische übersetzt, ihre übernationalen Werte selber ausgewiesen. Daß sie auch in Deutschland ihre Freunde gefunden hat, wo wir doch nach Mozart den 'langen Geschmack' lieben, während Wertheimer von allen Aphoristikern der aphoristischste ist, beweist der Mut des Verlags zu einer neuen Auflage in dieser für Bücher nicht gerade günstigen Zeit. Aber vielleicht trifft auch für diesen Aphoristiker, der vom guten Gedanken forderte, daß er fast nichts anhabe, sein eigenes Urteil über die Schriftsteller zu, von denen er sagte, die meisten von ihnen wären gelsesener, hätten sie weniger geschrieben." Fritz Ph. Baader in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. 23 (1920/21), Sp. 1526: Buch der Weisheit. Aphorismen von Emanuel Wertheimer. Zweite Auflage und neue Folge. Hamburg, Berlin, Hoffmann & Campe. 174 S.

 

Aufsätze / Rezensionen (in Bearbeitung):

E.W.: Der Friedhof eines Satirikers. Pester Lloyd. Morgenblatt. 55 (22.11.1908) Nr. 280, S. 1–3.

E.W.: Heinrich Heine. Pester Lloyd. Morgenblatt. 56 (19.10.1909) Nr. 247, S. 1–3.

E.W.: Barbey d'Aurevilly. Pester Lloyd. Morgenblatt. 57 (09.01.1910) Nr. 7, S. 1–3.

E.W.: Rudolf Goldscheid: Höherentwicklung und Menschenökonomie. In: Pester Lloyd. Morgenblatt. 59 (24.08.1912) Nr. 199, S. 1–4.

E.W.: Ein Jubilar [i.e. Oscar Blumenthal]. In: Pester Lloyd. Morgenblatt. 59 (20.03.1912) Nr. 68, S. 1–2.

E.W.: Adolf Bäuerle: Zur 50. Wiederkehr seines Todestages. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik. Amtl. Blatt des Deutschen Bühnen-Vereins 11(1908/09), S. 10351042.

E. W.: Ueber die Langeweile. In: Deutsche Zeitung. Morgenblatt. Wien, Mittwoch, den 13. August 1873. Nr. 582, S. 13.

"Die Langeweile strengt unsern Geist mehr an als das tiefste Gespräch; vielleicht aber läßt sich mein Leser eben dadurch zerstreuen, daß er mit angenehmer Leichtigkeit das als Zuschauer beurtheilen darf, was ihm sonst als Handelnden so viel Kopfarbeit kostet; ich wenigstens habe oft über sie in langweiliger Gesellschaft nachgedacht und mich dadurch auf's köstlichste unterhalten, habe da ihre Einflüsse, ihre Wirkungen beobachtet, und als Gegenstand der Betrachtung schien mir die Langeweile nie so langweilig als ihre Helden. An Einfluß kann sie sich kühn neben die weltbeherrschenden Mächte Egoismus, Hunger, Liebe und Ehrgeiz stellen, und man könnte sie wahrlich ebenso zum Ausgangspunkte einer Welt von Maximen und Reflexionen machen, wie dies Larochefoucauld in seiner universellen Einseitigkeit mit der Eigenliebe gethan. Man ahnt es gar nicht, wie viel Kriegspläne entworfen, wie viel Geschütze täglich aufgezogen werden, wie viel Mannschaft gegen sie stündlich ausrückt - die ganze Menschheit steht auf ewigem Kriegsfuße gegen dieselbe. Aus Instinct versieht sich Alles schon früh Morgens mit seinen zwei mächtigen Waffen, dem Stock und der Cigarre, um gegen den feindlichen Angriff der Langenweile geschützt zu sein. Viele Tausende von Federn ziehen gegen sie täglich in den Kampf, und wie viele Tausende darunter müssen nicht unterliegen, sich ergeben, zum Feinde desertiren! Es gibt Menschen, die vor ihr eine ordentliche Scheu, eine Furcht wie vor dem Tode haben, und leidenschaftliche Geister werden auch deßhalb ein langweiliges Buch wie einen Verbrecher von sich stoßen. Sie ist zudringlich wie eine Sommerfliege; je mehr wir sie verscheuchen, desto eigensinniger verfolgt sie uns. Sie tödtet nicht, im Gegentheile, sie verlängert das Leben, während wir dabei fortwährend sterben müssen, und eben dieses lebenverlängernde Sterben ohne Tod ist das Schreckliche an ihr. Auf allen Wegen, in allen Straßen und Gassen lauert sie auf uns, und hohe Herrschaften haben Adjutanten an ihrer Seite, weil sie ein Attentat befürchten von - der Langenweile. Die meisten Menschen müssen aus sich auswandern, weil es den Wenigsten vergönnt ist, sich selbst zu lesen, unterhaltend zu finden, selber Quelle zu sein, ein Genuß, der höher ist, als alle fremden Meere zu durchsegeln; denn eigener Geist hat wie ein Baum schon von Natur aus seine wechselnden Jahreszeiten, seine verborgenen Wurzeln, seine strebenden Kronen und ein Mark, das von Dauer ist.

 

Ein Theil der Menschen (und das ist der kleinste) kann sich nur geistig, ein anderer (und das ist der größte) nur physisch langweilen, ein dritter - beides zugleich; aber nicht Jeder besitzt jenen nothwendigen Grad der Begabung, um sich wahrhaft langweilen oder wahrhaft zerstreuen zu können. An  dem Geistreichen rächt sich die Langeweile am bittersten, weil er ihr natürlicher Feind ist, am Genie nur, wenn es nicht mit sich selbst zusammenkommen kann, was in der Gesellschaft meistens, in der Einsamkeit selten der Fall ist. Am häufigsten langweilen sich die Halbtalente oder Dilettanten und jene bemitleidenswerth-glücklichen Menschen, die nur e i n e  Sorge haben, nämlich daß sie keine haben.

 

Doch was ist die Langeweile? Stimmungsleere? Charakterlosigkeit eines Zustandes? Aber wozu Definitionen und Beschreibungen, wo so viele Beispiele und Situationen vorliegen? Wozu didaktische Behandlung, wo sie im großen Schauspiele der Welt so dramatisch wirksam jede stillstehende Handlung zum Fortgang zwingt?

 

Gehen wir auf die Straße! Da huscht eben ein Männchen vorbei. Seine Physiognomie verräth einen angehenden Schauspieler und einen fertigen Stutzer. Er geht allein, d. h. nicht einmal allein, brummt leise und unbewußt eine beliebte Melodie, recitirt den Monolog "Sein oder Nichtsein" oder was ihm sonst dunkel auftauchen mag. Bei den Vergnügungsanzeigen, bei den Concert-Placaten, den Theaterzetteln bleibt er stehen und sucht sich eines dieser Recepte gegen seine Krankheit aus. Bei allen Schaufenstern hält er still, denn alle Gegenstände ziehen ihn an; bei ihm herrscht augenblicklich kein Fachinteresse vor, er legt Allem einen unterhaltenden Sinn, eine zerstreuende Bedeutung, einen kostspieligen Wunsch unter, betrachtet die neuesten Hosenstoffe, besieht Uhren, Ohrgehänge, Spiegel, ja selbst bei einer Spitzenhändlerin hält er an. Beim Schirmmacher interessiren ihn die ausgehängten Preise, bei Kunsthandlungen macht er Specialstudien, murmelt seine Urtheile über diesen oder jenen Schauspieler laut vor sich hin, geht langsam weiter, den Kopf in der Höhe, die rechte Hand in der Brustseite, die linke in der Rückentasche, jeden Vorübergehenden mit Interesse studirend. Jetzt begegnet er einem Freunde. "Begleiten Sie mich doch - ah, nur ein Stückchen - bis zur Ecke - Sie müssen - begleite Sie dann zurück ....." Endlich schleicht er in den Cigarrenladen, flüchtet dann in ein Café, wo er neben fünf andern Genossen, die um einen Tisch versammelt sind, an der Verschwörung gegen die Langeweile theilnimmt.

 

Nicht anders geht es den vier jungen Leuten, die uns da Arm in Arm entgegenkommen. Sie sehen recht vergnügt und munter in die Welt, scherzen, lachen und bleiben eben stehen. Sie trennen sich. Der geht rechts und Jener links, alle aber nach verschiedenen Richtungen. Seht sie jetzt an! Wie schauen sie d'rein? Zum Erbarmen! Freudlos, matt und schlaff. Ja, die  v i e l e n  Wolken zusammen gaben, wenn auch keine Blitze, doch manchmal ein Wetterleuchten; wie armselig, traurig und trübe ziehen sie aber jetzt dahin!

 

Beobachten wir noch diesen hohen General, der gerade vor uns geht. Sein Schritt ist gemessen, wenn auch etwas schwerfällig, seine Cigarrette dampft, seine Hand spielt mit einem Handschuh, manchmal streicht er den Bart, macht recht ausholende Bewegungen mit den Armen, als wollte er etwas Lästiges abwerfen, setzt seinen Gang ruhig fort und blickt so eigenthümlich, als fühlte er auch den leisesten Luftzug, als wäre er empfindlich wie ein Thermometer. Was mag dem Mann wohl fehlen, daß sein Novembergesicht ohne Aussicht auf Sonne so verdießlich d'reinsieht, wie im Momente vor dem Nießen? Entwirft er einen neuen Kriegsplan oder sind es überbürdende Geschäfte, die seine Stirne so in Falten legen? Halt - er gähnt! Die Beredtsamkeit der Langenweile, der Demosthenes der Gesellschaft, der Seufzer des Geistes hat ihn verrathen. Viele hätten aus diesen Mienen etwas Bedeutenderes herabgelesen, aber die Langeweile macht eben für den Nichtkenner dasselbe Gesicht wie der Tiefsinn, und was Manche an jenen finstern, regelmäßigen Gesichtern für Ernst, Würde, Tiefe oder Strenge halten, ist meist nichts weiter als eine in Gedanken-losigkeit versunkene Unbehaglichkeit der Langenweile. Diese ehrwürdigen Furchen ihrer Stirnen, diese düstern Wolken über dem matten, trüben Auge beherbergen keine Blitze, o nein, es hat sich dort nur ein unheimliches Nichts sein Nest aufgeschlagen. Trüber Ernst ist überhaupt der Stempel der Langenweile, deßhalb schafft auch die Talentlosigkeit im Lustigen wie im Tragischen Ernstes statt Heiteres, und wenn die classische Langeweile dadurch entsteht, daß etwas Wässeriges mit Würde und Regelmäßigkeit tiefsinnig ausgedrückt werden will, so entsteht die romantische aus zu viel Gefühl bei zu wenig Phantasie. Die feierliche Geistlosigkeit aber ist beiden gemein. Viele Schriftsteller entgehen dem Ungeheuer nur dadurch, daß sie sich zum Kunstprincip machen: lieber geschmacklos als langweilig. In der modernen Literatur fühlt man oft, wie sich der Autor in seinem Werke mit der Langenweile herumbalgen muß; sie wirft ihm seine Talentlosigkeit vor, wogegen er ihr in seiner Wuth Geschmacklosigkeiten aller Art, grelle Contraste, plötzliche Ueberraschungen, kühne Wendungen, reformatorische Häßlichkeiten, bizarre Rhythmen an den Kopf wirft. Er führt ordentliche Dämme aus übereinandergeschichteten Effecten gegen sie auf. Besonders Dilettanten, die sich immer in Extremen bewegen, weil sie sonst Gefahr laufen, Gegenstand unseres Feuilletons zu werden, suchen etwas Charakteristisches, das ihrem Talente fehlt, und erhaschen dafür immer das Häßliche. In der Musik erfordert das Adagio ein besonders großes Talent, um schön, ohne langweilig zu wirken, und schon des zu Hilfe kommenden bewegtern Tempos wegen wird die größere Masse der Componisten sich mehr im Scherzo als im Adagio auszeichnen, da man bei letzterm bald merkt, ob der sechste Sinn dieses Künstlers Effect oder Genie heißt. Denn hier verräth die Modulation nach allen möglichen und unmöglichen Tonarten, daß die Melodie; der übermäßige Lärm des Bleches, daß die Kraft; endlich das häufige Klagen der getheilten Violinen, daß die Poesie langweilig geworden. Wer denkt nicht dabei an die so raffinirten, manierirten, mit allen Saucen übergossenen, durch alle Gewürze schmackhafter als schmackhaft gemachten Dialoge der Franzosen? Um der geringsten Sache willen stürzen die Personen ihrer Lustspiele hastig, athemlos auf die Bühne, richten sich wie geladene Pistolen gegen das Publicum, der Hahn wird gespannt, das heißt der Mund öffnet sich und Worte werden rasch und kurz wie die Schüsse gewechselt: Piff, paff, puff! so knallt's heraus, und der Zuschauer lacht, weil er sieht, daß die Pistolen nur mit Salz geladen waren. Im Schweiße ihrer Talentlosigkeit machen es ihnen viele Deutsche nach, wenn auch gerade nicht blos im Lustspiele. Natürlich, da die Kunst heute nicht mehr nach Brot zu gehen braucht, geht sie nach Effect, und mit Hilfe mathematischer Berechnung weiß man um acht Uhr unsere Neugierde zu erregen, um halb neun Uhr zu spannen, um neun Uhr uns vollends ins Netz zu bekommen und um zehn Uhr werden wir mit dem Bewußtsein, auf eine angenehme Weise nichts genossen zu haben, wieder entlassen. Fürwahr, bei solchen Stücken geht man als Summe hinein und als Nulle heraus! Allein der Kenner fühlt es wohl, daß bei der Schöpfung solcher Welten nicht der Geist Gottes, sondern die Langeweile über den Wassern schwebte. Oft ist diese aber nur subjectiv, und da ist es gar kein schlechtes Compliment für ein Stück, wenn Mancher unmittelbar nach dem Fallen des Vorhangs zu gähnen anfängt. Er ist eben aufrichtig und bescheiden, er bekennt, daß sein wirkliches, inneres Schauspiel tief unter dem gespielten äußern steht.

 

In der Wissenschaft hat sich die Langeweile durch alle Zeitalter recht breit gemacht und wie zu Hause gefühlt. Noch steht sie in Leinwand gebunden, in Reih' und Glied auf Bibliotheken, wo sie seit Guttenberg's Erfindung so große Fortschritte gemacht hat und seither wie Dunstobst in Bücher gepreßt und überwintert wird. Aber auch die Gelehrten sind endlich ihres Privilegiums auf die Langeweile - ein Vorrecht, das sie so lange nicht aus den Händen geben wollten - verlustig erklärt worden. Zerstreuung will man heute überall und in Allem, ja in der höhern Gesellschaft verlangt man sogar, daß die Tugenden geistreich und unterhaltend seien. Denn hier verbirgt sich die Langeweile in jeder Falte der Gewandung, in jeder Miene des Gesichtes, auf jeder Ottomane ruht sie hier, kauert in allen Ritzen, prangt auf allen Vergoldungen. Hier begeht man auch zumeist den eitlen Sprachfehler und sagt: e s  i s t, statt  i c h  b i n  langweilig. Man muß sie bedauern, diese armseligen Menschen, denen selbst der Secundenzeiger nicht vorwärts will, denen die Zeit nicht von der Stelle geht wie ein stütziges Pferd, das sie streicheln, liebkosen, schlagen, stoßen und peitschen - Alles umsonst. So bleibt ihnen die Lösung des tiefsinnigen Problems von Kant, daß die Zeit nichts sei, ebenso unbewiesen als unbegreiflich. Es ließe sich über diese unglücklichen Geschöpfe, die zum lebenslänglichen Tode verurtheilt sind, ein endloses Capitel schreiben, aber ein Capitel, dessen Gegenstand weder witzig noch humoristisch, sondern nur tragisch stimmen würde. Hier ist es, wo man sich in der Kunst des Nichtgähnens üben kann, eine Kunst, die man erst lernen muß, bevor man salonfähig sein will, ja hier ist der Satz am Platze, daß sich die Geistreichsten dort langweilen, wo sich die Langweiligsten unterhalten.

 

Aber nicht nur die Gesellschaft, die Gruppe, die einzelne Person - es kann sich auch jeder einzelne Theil des menschlichen Körpers auf originelle Art, jedes Glied, jeder Finger auf eigene Faust langweilen. So will die Nase ihren Schnupftabak, ihre Riechfläschchen, die Zunge ihre Süßigkeiten, ihre zarten Näschereien, man nimmt Limonade, Zuckerwasser, Eis, während ein gähnender Gaumen schon die schärfern Gewürze, Mixed-Pickles, zusammengesetzte Speisen verlangt, die Phantasie eines Koches in ihre höchsten Regionen treibt; und es gehört schon eine schöpferisch-raffinirte Geschmacklosigkeit dazu, den Geschmack eines gelangweilten Gaumens künstlich zu zerstreuen. Aber es ist auch leicht möglich, daß die Füße, während der Kopf in der Auffindung einer mathematischen Formel tief versenkt ist, sich in keiner geistreichen Gesellschaft fühlen, den Sesseln schaukeln, sich übereinander kreuzen, bald vor-, zurück-, bald an- und auseinanderschieben, klopfen, hutschen, rutschen, und die Finger, wo sie sich in keiner packenden Situation wissen, standesgemäß sich selbst zerstreuen, in der Luft schreiben, Kreise ziehen, an der Uhrkette spielen, die Comptoirschlüssel drehen, gehend, stehend, sitzend Triller und Passagen üben. Wenn sich die Augen zu langweilen beginnen, interessiren sie sich für Alles, selbst für häßliche Augen, und das ist die gefährliche Zeit, Gefühle zu besitzen, denn man verliebt sich ebenso oft aus Langerweile wie aus Geschmacklosigkeit. Das Auge, weil es am meisten Zerstreuung bieten kann, verlangt auch die reichste, wechselvollste Unterhaltung, genießt aber auch als verwöhntester Theil des menschlichen Körpers die Dinge viel leichter, schneller als jeder andere.

 

Doch nichts kann der fürchterlichen Qual verglichen werden, mit der sich Herz und Kopf langweilen, das Herz sogar am schnellsten. Es will Gesellschaft und hat keine, für den Kopf interessirt es sich nicht, besonders in der Jugend, wo es viel älter als die Klugheit ist, und so scheint Liebe - glückliche oder unglückliche - das bewährteste und natürlich auch gebrauchteste Heilmittel dagegen, denn die Langeweile heilt vortrefflich an den Wunden des Herzens, und manche Ehe ist nichts weiter als der heilige Bund, den zwei Menschen gegen die Langeweile schließen - freilich nicht immer mit Erfolg. Ja, was wirkt sie nicht Alles! Die meisten Menschen hätten kein Gewerbe ohne die Langeweile; sie hebt die Industrie, befestigt die Gesellschaft, aus ihr entspringen ebenso unsere kleinsten Tugenden wie unsere größten Laster. Sie macht schöpferisch auf sinnlichem, wie die Leidenschaft auf geistigem Gebiete, denn nicht der Genius, nur die Schlaffheit schafft aus Langerweile, und wenn die Triebfeder großer Geister das Feuer der Leidenschaft ist, so ist es die wohlthätige Unbehaglichkeit der Langenweile, die den Strom des gewöhnlichen Lebens im nothwendigen Fluß erhält. Tausende von Einrichtungen sind der Einfluß ihrer Herrschaft, keine Großmacht besitzt soviel Unterthanen und keine schreitet so mit dem Zeitgeist, dem Jahrhunderte vorwärts wie sie, ja es scheint, die Civilisation und die Langeweile cultiviren sich nur zum Dank für gegenseitige Unterstützung. Neues! Neues! ruft sie, und immer Neues, sie ist gegen das Alte, gegen die Natur, sie, die aristokratisch gesinnte Ceremonienmeisterin, die Sirene der wechselnden Moden, das Gähnen der Cultur. Sie nimmt dir ein Billet ins Theater, erwartet dich, wenn du, allein und unverliebt vom Balle kommend, in dein leeres, einsames Gemach trittst, läßt reisen, ladet Gäste, gibt Schmausereien, ist bei Hof ein täglicher Gast, in Gesellschaft ziemlich tonangebend, läßt Clavier vorspielen, singen, tanzen, schafft den Weisen ab, bringt ihresgleichen zu Ehren, öffnet die Champagnerflaschen, leert die Gläser, füllt die Köpfe, tonstirt, ruft nur immer mehr und mehr und stärkere Getränke, und hier ist der wunde Punkt, wo die Langeweile auch den Aermsten packt. Sie muß ihrer selber überdrüssig sein, sonst würde sie uns nicht so unaufhörlich in den Weg fallen, um von uns  getödtet zu werden. Sie treibt den Bedauernswerthen, der ihr keine andere Zerstreuung bieten kann, in die billigste, ihm zugängliche Betäubung, Viele müssen, um ihr zu entgehen, sich selbst entgehen, sich daher betrinken, denn sie haben keine andern Mittel, sich selber auszuweichen, sich von sich zu trennen, nichts von sich zu wissen; in ihnen ist kein so mächtiges Gefälle, über das der Strom ihrer Lebensgeister, wie durch ein natürliches Gesetz, unaufhörlich nach der Tiefe streben müßte. Sie wollen ihren Körper schöpferisch stimmen, da es ihr Geist nicht sein kann oder will. Ihre eigene Gesellschaft zu meiden ist ihr höchster Genuß, sich nicht zu fühlen ihre einzige Unterhaltung, deren sie fähig: Aufregung in der Betäubung. Nun sind sie in ihrer Versunkenheit höher gestimmt, stehen in ihrer Schwäche über sich, genießen das Bewußtsein der Bewußtlosigkeit. Alles hat sich gesteigert, ihre Phantasie entwirft, ohne auszuführen, ihr Lust jauchzt, ohne sich zu ermuntern, und der Muth wächst, während der Kampfplatz unter ihnen schwindet. Dumpf und öde im Herzen, kalt im Leibe, suchen sie sich in der Betäubung den Tanz, das Spiel, die Pastete, die Liebe, mit Einem Worte - den nüchternen Rausch zu ersetzen.

 

Soll ich fortfahren? Nein. Ich will das Thema der Langenweile nicht zu weit ausspinnen, sonst . . . .

 

Emanuel Wertheimer"

Aphorismus der Woche

(28. Kalenderwoche)

Die Eigenliebe hat vor der Liebe zum andern Geschlecht vieles voraus: keine Spur eines Widerstandes, grenzenlose Treue, ja eine leidenschaftliche Zunahme mit dem Alter; und was das beruhigendste es gibt keinen Fall von Selbstmord aus Eigenliebe.

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© Christine M. Kaiser